Kanban und Selbstorganisation - Teil 2

Manage the work; and let people self-organise around it, postuliert Kanban für die Wissensarbeit. Nachdem ich  im ersten Teil meiner Artikelserie  die Grundbegriffe geklärt (Was heißt überhaupt Selbstorganisation?) und für den unternehmensweiten Einsatz von visuellem Arbeitsmanagement plädiert habe (Wo überhaupt Kanban?), geht es in diesem Teil vor allem um das Warum? Anders gefragt:

Wozu braucht Kanban Selbstorganisation?

Die Erfahrungen der Unternehmen, die Enterprise Kanban im Einsatz haben, legen zwei Schlüsse nahe: kontinuierliche Verbesserung baut auf Autonomie und Manager, die laufend die Rahmenbedingungen dafür optimieren. Erst durch ein Führungsverständnis, das konsequent auf verteilte Entscheidungskompetenz, individuelle Verantwortungsbereitschaft und gemeinsames Lernen setzt, können sich die vorhandenen Kräfte gut entfalten. Ich kann nicht oft genug wiederholen, dass wir dafür nicht nur intelligente Systeme benötigen. Wir brauchen auch Menschen, die diese Arbeitssysteme mit Leben erfüllen. Es geht um Einsatz und Leidenschaft, um Kreativität und Esprit, um Herzblut, Hirnschmalz und die Bereitschaft kräftig zuzupacken, wenn es die Situation erfordert. All das sind jedoch höchst emotionale Kategorien — was im übrigen auch für vielstrapazierte Begriffe wie Commitment und Ownership gilt.

Kanbantechniken, so meine These, sind dafür nicht genug. Selbst die raffiniertesten Werkzeuge nützen nichts, wenn die Arbeitswelt von hierarchischer Kontrolle und persönlichen Abhängigkeiten geprägt ist. Stattdessen lebt eine vitale Verbesserungskultur vom Grundvertrauen und den Freiräumen, die gemeinsam ausgestaltet werden. Unter diesem Blickwinkel markiert Selbstorganisation die Überschrift für eine breite Palette an Designelementen.

Wie ich in meinem letzten Buch am Beispiel von über 40 selbstorganisierten Unternehmen ausführe, reicht diese Palette vom konsequenten Kundenfokus über transparente Steuerung, Experimentierfreude oder schlanke Organisation bis hin zu laufenden Trainings- und Coachingmaßnahmen.

Um es technikfreundlich auszudrücken: Selbstorganisation ist der Motor, der Kaizen in die Gänge bringt und am Laufen hält. Wie Sabine Eybl und ich in unserem Blog „Wozu Selbstorganisation?“ beschreiben, setzen Unternehmen dafür unterschiedliche Kraftstoffe ein: Kultur, Strategie, Struktur und Geschäft. Hier ein kurzer Überblick.

Die kulturellen Kräfte stehen oft im Zentrum der Selbstorganisation. Es geht um mehr Fairness, um demokratischere Verhältnisse und ein mitarbeiterfreundliches Arbeitsklima, in dem Freude und Spass nicht nur schöne Worte sind. Ein solches Klima kann durch Kanban auf allen Ebenen gestärkt werden. Man setzt auf die Kompetenz der Experten und hält diese nicht nur zur fachlichen Umsetzung, sondern auch zum Management der eigenen Arbeit sowie der notwendigen Koordination mit der Arbeit anderer an. In diesem Sinne wird die Verantwortung auf viele Schultern verteilt und, dem dritten Change Management-Prinzip von Kanban entsprechend, Führung auf allen Ebenen gefördert. Wir reden ja nicht umsonst von einer Kultur kontinuierlicher Verbesserung, die ja, wie bereits erwähnt, von der Lernbereitschaft und -fähigkeit aller Mitarbeitenden abhängt.

Mit Kanban-Brille betrachtet hängt das selbstorganisierte Arbeiten freilich nicht allein vom unternehmenskulturellen Kontext, Auch der Fokus des visuellen Arbeitsmanagements spielt eine wesentliche Rolle. Wird Kanban auf höchster Flugebene eingesetzt, stehen naturgemäß die strategischen Aspekte der Selbstorganisation im Zentrum. Hier geht es vor allem darum, lukrative Geschäftsmöglichkeiten, aber auch drohende Marktrisiken möglichst frühzeitig wahrzunehmen. Die professionelle Visualisierung dieser Möglichkeiten ist ein wesentlicher Baustein dafür. Damit verschafft man sich Überblick und schärft die Aufmerksamkeit für die vielversprechendsten Optionen. Doch eine solche Aufmerksamkeit lebt davon, die Wahrnehmungsfähigkeiten des gesamten Unternehmens zu verbessern. 

Wenn Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität die Zeichen unserer Zeit sind, brauchen Unternehmen ein Sensorium, das diesen Herausforderungen gewachsen ist. Seit Ross Ashbys Law of Requisite Variety wissen wir, dass externe Komplexität nur mit interner Vielfalt zu beantworten ist. Mit anderen Worten: Es geht um eine möglichst breite Wahrnehmung des Marktes aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Alle Mitarbeiter sollen nunmehr, wie die Abbildung unten skizziert, gleichsam ihre Fühler ausstrecken und als Sensoren für das Umweltgeschehen wirken.

Damit dieses Modell strategisch relevant wird, braucht es allerdings auch eine intelligente Vernetzung der Sensoren, damit unterschiedliche Wahrnehmungen ausgetauscht und die richtigen Schlüsse für das weitere Vorgehen gezogen werden können. Kanban auf Strategieebene bietet eine gute Möglichkeit, um solche Schlüsse strategisch zu bündeln. Das zeigt sich beispielsweise:

  • in der Offenheit des Optionenpools: jeder im Unternehmen ist dazu eingeladen, gute Geschäftsideen einzubringen; 

  • in der Möglichkeit, sich kurzfristig für vielversprechende Optionen entscheiden zu können und nicht an langfristig festgelegten Plänen festzuhalten;

  • in der schrittweisen Veränderung der Strategieentwicklung von einem bürokratischen Akt (Stichwort: Jahresplanung) in einen fortlaufenden Lernprozess (Stichwort: Iterationen) 

  • im damit einhergehenden Wandel von der reinen Chefsache (Stichwort: Königsdisziplin) zu einem Forum, an dem viele Mitarbeiter beteiligt werden — was sich durch eine bereichs- und hierarchieübergreifende Besetzung strategischer Standups ebenso fördern läßt wie durch professionell moderierte Strategieforen, die bewusst auf die Kraft großer Gruppen setzen. 

Enterprise Kanban setzt allerdings nicht nur auf neue Formen der Strategieentwicklung. Strategische Agilität geht vielmehr Hand in Hand mit operativer Agilität. Denn was nützen uns die schönsten Optionen, wenn wir nicht fähig sind, sie rasch und in Top-Qualität umzusetzen? Dafür schaffen wir mit Enterprise Kanban ein schlankes Set an Strukturen und Prozessen, damit sich unterschiedliche Leute bestmöglich miteinander abstimmen können. Bei Koordinationssystemen (Flugebene 2) treffen indes eher Teams als Einzelpersonen aufeinander. Die spielentscheidende Frage ist, wie diese Teams bzw. ihre Vertreter die Umsetzung der strategischen Vorhaben sicherstellen. Wie sorgen sie dafür, dass die Arbeit der unterschiedlichen Teams auf die gemeinsame Strategie einzahlt? Wie sorgen sie über die aufbauorganisatorischen Binnengrenzen hinweg für geschmeidige Arbeitsflüsse? Wie werden diese Flüsse zu marktorientierten Wertströmen vereinigt? Und wie werden möglichst kundennahe Entscheidungen gefördert?

Es soll schon vorgekommen sein, dass die Beantwortung dieser Fragen zu mehr führt als zur Bearbeitung aktueller Blockaden. Kanban erlaubt bekanntlich nicht nur kritisches Nachdenken, es fordert dieses sogar heraus. Das führt mitunter zu Veränderungen, die weit über die Symptombekämpfung hinausgehen. Dabei kann es sich um neue fachliche Lösungen handeln, um neue Kernaktivitäten oder um neue Team- oder Abteilungsstrukturen. Die Dynamik des selbstorganisierten Arbeitens mit Kanban beschränkt sich eben nicht auf die Methode. Schließlich steht nicht Kanban im Mittelpunkt, sondern das, was im Fachjargon Organisationsdesign genannt wird. Das wirft mitunter radikale Fragen auf: 

  • Ist unsere derzeitige Aufbauorganisation konsequent am Markt orientiert? Was braucht der Kunde eigentlich? Worauf legt er besonderen Wert? Was könnte noch wertvoll sein?

  • Unterstützen unsere derzeitigen Strukturen und Prozesse die laufende Verbesserung unserer Arbeitsflüsse? Wie gut helfen sie uns dabei, möglichst viel Wert mit möglichst wenig Aufwand zu liefern? 

  • Wird die direkte Interaktion mit Kunden gefördert? Wird für eine regelmäßige Einbindung gesorgt? Für eine vertrauensvolle Kommunikation? Für intensives Feedback bis hin zur gemeinsamen Entwicklungsarbeit? 

  • Steht unser derzeitiges Organisationsdesign im Zeichen der Schlankheit und Einfachheit? Reduzieren wir Abhängigkeiten, wo immer wir können? Fördern wir Autonomie? Und rüsten wir uns dafür auch angemessen aus?

Die Beantwortung dieser Fragen hat viele Unternehmen dazu gebraucht, verstärkt auf dezentrale Einheiten von überschaubarer Größe zu setzen, die auf eine bestimmte Kundengruppe, ein Produkt oder eine Region fokussiert sind. Denn Agilität ist bekanntermaßen auch eine Sache des Gewichts. Wenn für jede Entscheidung ein ganzer Apparat von Vorgesetzten und Fachabteilungen mobilisiert werden muss, ist es gleich wieder vorbei mit der unternehmerischen Beweglichkeit, von der derzeit alle zu träumen scheinen. Das Erfolgsrezept lautet: flache Hierarchie, ein Minimum an Zentralfunktionen und Richtlinien, dafür ein Maximum an Selbstbestimmung.

Was uns folgerichtig zur letzten Antwort auf die Frage "Wozu Kanban und Selbstorganisation?" bringt. Sie lautet: die Kombination dient dem Geschäft. Es geht um Business Agility, also um die unternehmerische Fähigkeit, Chancen wie Risiken rasch und effizient wahrzunehmen. Mit Kanban selbstorganisiert zu arbeiten ist kein Selbstzweck. Am Ende des Tages geht es immer um den messbaren Erfolg. Auch Managementphilosophien müssen sich eben rechnen.

Dass wir Enterprise Kanban und Selbstorganisation als unternehmerische Mittel sehen, bedeutet indes nicht, sie auf rein kapitalistische Zwecke zu reduzieren. Demokratischere Verhältnisse, mehr Respekt und Anerkennung, persönliche Augenhöhe sind mehr als erwünschte Nebeneffekte. Man denke nur an die Bedeutung der Unternehmenskultur für die aktuelle Mitarbeiterzufriedenheit, das Halten guter Leute oder die Attraktivität für junge Talente. Nichtsdestoweniger dienen die kulturellen, strukturellen und strategischen Motoren gleichermaßen dem Ziel, den Unternehmenserfolg anzukurbeln — oder zumindest am Laufen zu halten. 

Die Synergie von Kanban und Selbstorganisation hilft meiner Erfahrung nach, einen besonderen Engelskreis zu kultivieren. Kundenzufriedenheit, Mitarbeiterzufriedenheit und Profitabilität schließen einander nämlich keineswegs aus. Im Gegenteil: Wenn Mitarbeiter motivierter zu Werke gehen, wenn sie das, was sie gut machen, selbst managen, wenn sie sich besser miteinander und mit relevanten Stakeholdern koordinieren und das alles gewissermaßen sehenden Auges tun, wirkt sich das auch auf die Kunden aus. Und wenn sich die Kunden ihrerseits besser abgeholt fühlen, wenn sie den Eindruck haben, dass es wirklich um ihre Wünsche geht und zwischendurch auch mal die vielzitierte Extrameile gegangen wird, schlägt sich das wiederum in besserem Feedback nieder. Das wiederum erhöht die Motivation der Mitarbeitenden, da sie sehen können, welchen Sinn und Nutzen ihr Einsatz stiftet. Und so weiter und so fort.

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