O du lieber Augustin. Business Agility im Zeitalter von COVID-19

Die Geschichte des lieben Augustin gehört zu den populärsten Legenden Wiens. Sie geht angeblich auf die historische Figur des Marx Augustin zurück, der Mitte des 17. Jahrhunderts stadtweit als gewitzter Musiker und „tüchtiger Trinker“ bekannt war. Letzteres wäre ihm 1674, am Höhepunkt der damaligen Pestepidemie, beinahe zum Verhängnis geworden. Schließlich wurde der bloß seinen Rausch Ausschlafende für tot gehalten und mit allen anderen Opfern der Epidemie von der Straße geräumt und in ein Massengrab geworfen. Um die Ansteckungsgefahr einzudämmen, überschüttete man das Grab sogar mit Kalk. Doch Augustin, so die Legende, schlug dem ihm zugedachten Schicksal gleich ein doppeltes Schnippchen: weder starb er, noch ließ er sich mit der Pest anstecken. Stattdessen spielte er nach dem Erwachen munter auf dem Dudelsack, bis man ihn aus der Totengrube gerettet hatte — und er mit seiner Geschichte zu einer Jahrhunderte überdauernden Berühmtheit aufstieg.

Und die Moral von der Geschicht? Nun, eine mögliche Interpretation könnte lauten: Gerade in bedrohlichen Zeiten zahlt es sich offenbar besonders aus, wenn man in Bewegung bleibt, sich auf die jeweilige Situation einstellt und selbst dann kreativ bleibt, wenn man sich in großer Gefahr befindet. Sie fragen sich vielleicht, was das Ganze mit Agilität und Unternehmen zu tun haben soll. Die historische Verbindung von COVID-19 mit der Mutter aller Pandemien mag ja noch auf der Hand liegen. Aber worin besteht der Bezug zum soziöökonomischen Lockdown, wie wir ihn in den letzten Wochen erlebt haben? Welche Parallelen zwischen persönlichem und unternehmerischem Krisenmanagement lassen sich ziehen? Und welche Konsequenzen hat dieses Management für einen Entwicklungsansatz, der seit gut 20 Jahren unternehmerische Fitness verspricht?

Sicher ist es noch zu früh, um diese Fragen mit der gebotenen Umsicht zu beantworten. Dafür stecken wir gewissermaßen noch zu tief in unserer aktuellen Pestgrube. Trotzdem möchte ich im Folgenden einige Erfahrungen teilen, die wir bei LOOP in den letzten Wochen gemacht haben. Mein Fokus liegt auf der Frage, wie Unternehmen mit Corona umgehen und welche Rolle dabei Agilität spielt. Welche typischen Umgangsformen haben wir diesbezüglich erkannt?

  1. Am Stärksten stachen uns natürlich die Unternehmen ins Auge, die aufgrund der Pandemie ums nackte Überleben kämpfen müssen — wie das etwa in der Luftfahrt- oder in der Eventmanagement-Branche der Fall ist. Mit augustinschem Galgenhumor betrachtet, gilt für diese Unternehmen: „Alles ist hin!“ Mit dem Business ist auch die Agilität dem Tode geweiht. Es braucht externe Rettung, wodurch die betroffenen Unternehmen oft zum Spielball politischer Kräfte werden.

  2. Am anderen Ende des Betroffenheitsspektrums stehen Unternehmen, die eben nicht zu den Verlierern, sondern zu den Gewinnern der Krise gehören — wie etwa die Pharmaindustrie, der Medizinhandel oder die Lebensmittelbranche. Sie feiern gewissermaßen jenes „groß´ Leichenfest“, das im Augustinlied so schön besungen wird. Strategisch heißt das vor allem „mehr vom selben“: mehr Produkte, mehr Services, mehr Output, mehr Profit. Agile Vorgehensweisen sind hier durchaus willlkommen, immerhin haben sie sich in vielen Bereichen als wichtige Produktivkraft bewährt. Viel stärker zählt allerdings die unternehmerische Effizienz, also die Fähigkeit, das bestehende Portfolio möglichst rasch und reibungslos zum Kunden zu bringen.

  3. Dann sehen wir natürlich Unternehmen, die von der Krise ebenfalls stark betroffen sind, aber in keines der beiden genannten Extreme fallen — was für den Großteil aller Branchen von A wie Automotive bis Z wie Zahntechnik gilt. Einige Unternehmen, die für sich durchaus in Anspruch nehmen, agil zu sein, sind in der Krise wieder zu traditionellen Managementformen zurückgekehrt. Mit einem Male werden Entscheidungskompetenzen wieder an der Spitze konzentriert, Strategien hinter verschlossenen Türen ausbaldowert und Kommunikation vornehmlich top-down ausgerichtet. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass zentrale agile Werte wie Transparenz, Offenheit oder Empowerment vielerorts ausgehebelt oder zumindest abgeschwächt werden: Führung wird wieder zur Chefsache, Selbstorganisation höchstens noch auf Teamebene wichtig. Dass gerade Großkonzerne der Idee einer starken Hand zuneigen, läßt einen am agilen Selbstverständnis dieser Konzerne zweifeln. Die Zweifel verstärken sich, wenn dann auch noch Manager in den Vordergrund treten, die sich während des Agilisierungshypes die längste Zeit über bedeckt gehalten hatten. Plötzlich treten diese Manager nicht nur für die alte hierarchische Führung ein, sondern sprechen sich auch dediziert gegen die Weiterentwicklung unternehmerischer Agilität aus (O-Ton: „Dafür haben wir jetzt weder Zeit noch Geld.“)

  4. In den letzten Wochen begegneten wir freilich auch Unternehmen, für die das agile Vorgehen eine wichtige Ressource im Krisenmanagement darstellte. Zwischendurch zeigte man sich in diesen Unternehmen sogar regelrecht begeistert davon, wie wenig einschneidende Maßnahmen wie Kurzarbeit oder Home Office die Performance eingeschränkt haben: Scrum-Teams sprinten brav weiter, Kanban-Teams managen ihre Arbeitsflüsse nun einfach virtuell, Design-Thinking-Teams entdecken neue Formen der Zusammenarbeit usw. Diese Erlebnisse sind zweifellos erfreulich und ein kraftvoller Beleg für die Leistungsfähigkeit agiler Methoden. Gleichzeitig mussten wir allerdings feststellen, dass sich die Mehrheit dieser Unternehmen mit der Erhaltung des agilen Status quo begnügten. Investitionen in die kontinuierliche Verbesserung wurden deutlich zurückgeschraubt, wenn nicht sogar ganz ausgesetzt — was, apropos Prozesse, die nicht gepflegt werden, tendieren zur Regression, ganz sicher nicht im Sinne des agilen Erfinders ist. 

  5. Schließlich hatten wir mit Unternehmen zu tun, in denen die agile Kultur bereits vor der Krise ein gewisses Maturitätslevel erreicht hatte und ein fester Teil der DNA war. Dementsprechend nahe lag es für diese Unternehmen, die Krise mit agilen Mitteln zu managen; sie konnten quasi gar nicht anders. Das führte zu zwei gut beobachtbaren Phänomenen: Erstens wurde Agilität genützt, um trotz aller viraler Einschränkungen, mit denen auch diese Unternehmen zu kämpfen hatten, innovativ zu bleiben — was sich in der kurzfristigen Umstellung der Produktion von Luxusgütern auf Arzneibedarf ebenso zeigte wie in der schlanken Entwicklung neuer Apps, um das Lieferservice oder die medizinische Versorgung zu verbessern. Zum anderen investierten diese Unternehmen aber auch bewusst in die laufende Optimierung aller Geschäftsprozesse. Zwischendurch hatten wir sogar den Eindruck, dass der Markt sogar noch intensiver auf neue Chancen hin gescannt wurde. Im Rahmen seiner wöchentlichen Management-Updates schwor ein Online-Marktplatz alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf ein, die Kunden nicht zu vernachlässigen, sondern diese „jetzt erst recht“ als wichtige Feedbackgeber zu adressieren. Ein mittelständischer Produktionsbetrieb ließ sich nicht von ausbleibenden Aufträgen frustrieren, sondern startete trotz Kurzarbeit ein für alle Mitarbeitenden offenes, bereichs- wie hierarchieübergreifendes Innovationsforum, in dem im Zwei-Wochen-Rhythmus neue Geschäftsideen diskutiert, priorisiert und bis zum jeweils nächsten Forum in Sprint-Manier umgesetzt wurden. Ein großes Infrastrukturunternehmen reagierte auf den Lockdown, indem es Retrospektiven in allen Bereichen, aber auch bereichsübergreifend durchführte. Und ein Telekomkonzern setzte verstärkt auf fachliches Lernen durch Pairing oder Communities of Practice, die im virtuellen Raum sogar noch ausgebaut wurden. Sicherlich wäre die Behauptung vermessen, diese Unternehmen wären per se erfolgreicher als all jene, die auf konservative Managementformen setzen — reaktionsschneller und experimentierfreudiger als traditionell geführte Organisationen sind sie jedoch allemal.

Wie immer, wenn man typische Phänomene zu sortieren versucht, lauert das Untypische bereits hinter der nächsten Ecke. Natürlich treten meine fünf Kategorien selten in Reinkultur auf; es gibt diverse Mischformen und widersprüchliche Phänomene. Bei aller gebotenen Vorsicht möchte ich am Ende dennoch einige vorläufige Schlussfolgerungen apropos Business Agility und COVID-19, wagen:

  • Wenn niemand weiß, was genau auf einen zukommt, erscheint Fahren auf Sicht nicht als die dümmste Strategie — andernfalls läuft man leicht Gefahr, diverse Schlaglöcher, wenn nicht sogar echte Pestgruben zu übersehen. Die fehlende Weitsicht wird durch COVID-19 allerdings nicht verursacht, sondern nur verschärft. In der vielzitierten VUCA-Welt war man schon davor gut beraten, nur überschaubare Etappen zu planen. Umso höher waren die Chancen, das Geplante auch erfolgreich umzusetzen. Dementsprechend darf das iterative Vorgehen, getrieben vom gemeinsamen Lernen aus jeder absolvierten Etappe, als Lebenselixier für eine Unternehmensentwicklung gelten, die weder am Markt noch an den Mitarbeitern vorbeigeht.

  • Eine solche Unternehmensentwicklung wird indes nicht bloß durch schlechte Sicht zur Herausforderung. Gerade in verseuchten Zeiten führt sie einen auch durch unbekanntes Gelände. So bleibt unklar, welche Rahmenbedingungen die Politik setzt, wie genau das Umfeld aussieht, durch das man sich bewegt, welche relevanten Stakeholder in diesem Feld auftauchen und wie sich all jene verhalten, die das Unternehmen ko-kreativ gestalten.

  • Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass dafür ein gutes Radarsystem hilfreich ist. Unserer Erfahrung nach steht und fällt eine solches System jedoch mit der Führungsphilosophie. Auf eine simple Formel gebracht: Je mehr Mitarbeitende sich dafür gewinnen lassen, gewissermaßen ihre Fühler auszustrecken und zu Seismographen des Geschehens rundum werden, umso besser — insbesondere, wenn sie dabei im Kontakt mit ihren Kunden bleiben und sich nicht auf kleinkariertes Business zurückziehen.

  • Dafür ist jedoch eine Kultur unerläßlich, die gerade in schwierigen Zeiten auf viele Augustins setzt und diese im übertragenen Sinn auch mit entsprechenden Dudelsäcken ausstattet. Dafür genügt es nicht, dass Manager den vielstrapazierten Begriff des Empowerments in den Mund nehmen. Vielmehr braucht es klare Rahmenbedingungen, die den Grad dieses Empowerments regeln und - was gerne vergessen wird - die Fähigkeit, professionell mit dieser Power umzugehen. Letzteres fällt einem nicht einfach in den Schoss, sondern erfordert zuweilen gezielte Trainings- und Coaching-Maßnahmen. Unserer Einschätzung nach sind solche Unterstützungsmaßnahmen in schwierigen Zeiten besonders wichtig, fallen aber oft als Erstes dem traditionellen Krisenmanagement zum Opfer.

  • Der liebe Augustin mag es noch einmal in aller Deutlichkeit vordudeln: Agilität ist kein esoterisches Mindset; sie steht und fällt mit solidem Wissen (Was ist das? Und wozu soll das gut sein?), persönlichem Verständnis (Was genau heißt das für mich? Und was habe ich davon?) und konsequenter Übung. Es sind eben schon viele tüchtige Trinker in die Grube, aber noch wenige agile Meister vom Himmel gefallen.

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