Agile Elefanten

Den ganzen Elefanten erkunden, lautet einer der klassischen Slogans der systemischen Beratung. Fragt sich natürlich, wie zutreffend diese Metapher heute noch ist. Wie passt der Organisationselefant in die VUKA-Welt? Und wie können wir ihn im Zeitalter von agil & digital gleichsam zum Tanzen bringen?

Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich den Slogan noch ein wenig ausbauen. Wenn Unternehmen tatsächlich mit Elefanten vergleichbar sind, dann ähneln ihre Mitglieder den sechs Blinden aus der berühmten Geschichte. Je nach Position beschreiben diese Blinden den Elefanten als wendige Schlange (der Blinde am Rüssel), als gefährliche Lanze (der Stosszahn), als großen Fächer (Ohr), als stabile Säule (Bein), als raue Ziegelwand (Bauch), oder als Seil (der Schwanz).

Es fällt nicht schwer, diese alte Geschichte auf die Unternehmenswelt des 21. Jahrhunderts zu übertragen. Trotz Digitalisierung und Agilität neigen viele nach wie vor zur Betriebsblindheit: Für Sales-Spezialisten ist alles eine Frage des Vertriebs, IT-Teams betrachten vor allem technische Aspekte, für Finanzexpertinnen läßt sich das Business durchgehend in Zahlenform darstellen, und so weiter und so fort.
Diese selektive Wahrnehmung kann als Symptom der aufbauorganisatorischen Silologik gesehen werden.

Alle sehen eben nur den Teil des Elefanten, mit dem sie fachlich beschäftigt sind — und rechnen diese Erfahrungen (Rüssel, Stosszahn, Bein usw) auf das große Ganze hoch. Das betrifft freilich nicht nur das Bild vom eigenen Unternehmen, sondern auch von dessen Verhältnis zu den relevanten Umwelten.

Mit anderen Worten: den Beziehungen zu seinen Kundinnen und Kunden, seinen Lieferanten oder seinen Mitbewerbern. Dass auch der Blick nach Außen von diversen Filtern und blinden Flecken getrübt ist, verschärft die Herausforderungen, vor denen Unternehmen heute stehen. Nicht umsonst gehört eine offene Wahrnehmung zu den Grundvoraussetzungen, um die grassierende Volatilität zu bändigen.

Das wirft die Frage auf, wie sich solch Wahrnehmungsprobleme überwinden lassen.

  • Was muss passieren, damit die Scheuklappen verschwinden, um über den eigenen Sichtkreis hinaus gleichsam die Augen zu öffnen?

  • Um das Unternehmen in seiner realen Vielfalt zu erkennen?

  • Und genau diese Vielfalt als Ressource auf einem hoch agilen Markt zu nutzen — schließlich bewegt sich der Elefant/der Organisationselefant in einer überaus dynamischen Arena? 

Mit Russell L. Ackoff können wir darauf eine richtungsweisende Antwort geben. Der ganze Elefant ergibt sich nicht aus der simplen Addition der einzelnen Teile, sondern aus deren Interaktion. Anders ausgedrückt: Der Elefant als Ganzes wird nicht schneller, wenn er heftiger mit den Ohren schlägt oder die Wendigkeit des Rüssels verbessert. Das passiert erst, wenn alle Körperteile in koordinierter Form an Geschwindigkeit zulegen.

Übertragen auf die Geschäftswelt heißt das, dass wir ein Unternehmen nicht agiler machen können, wenn wir nicht alle Bereiche in Bewegung setzen. Denn Unternehmen sind eben buchstäblich weit mehr als die Summe ihrer Ab-Teile.

Um die agilen Glücksversprechen von mehr Proaktivtät und Reaktionsschnelligkeit zu erfüllen, braucht es geschmeidige Bewegungsabläufe. Damit die richtigen Leute zur richtigen Zeit das Richtige tun, sind vertrauensvolle Abstimmungen vonnöten— zumindest all jener Leute, die an gemeinsamen Zielen arbeiten. Wenn es sich dabei, wie heutzutage üblich, um komplexe Ziele handelt, für deren Erreichung Expertinnen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenarbeiten müssen, braucht es bereichsübergreifende Kommunikationszonen. Mit dem Elefantenbild gesprochen: Zonen, in denen sich die Rüssel- mit den Stosszahn-, Bein- und Bauchleuten verständigen und gemeinsame Bilder von der Tier- wie der Umwelt entwickeln können. Weniger metaphorisch ausgedrückt: Erst durch den offenen Austausch über die funktionsspezifischen Erfahrungen, nicht zuletzt mit Kundinnen und Kunden, kann ein einigermaßen akkurates Bild der aktuellen Arbeitssituation entstehen. Und erst auf Basis eines solchen Blldes können gemeinsam die richtigen Entscheidungen getroffen werden.


In einigen Fällen mag die notwendige Erkundung des Elefanten tatsächlich das ganze Unternehmen betreffen — wenn beispielsweise eine große Transformation ansteht oder für die Definition strategischer Initiativen. Im Regelfall wird man sinnvolle Teilsysteme, also gewissermaßen kleinere Elefanten identifizieren können — etwa solche, die für bestimmte Wertströme, für ein besonderes Produkt oder ein spezielles Marktsegment verantwortlich sind. Und innerhalb dieser Teilsysteme wird man wiederum Delegierte bestimmen können, die die Sichtweise eines Teams oder einer Fachdisziplin vertreten, sodass es bei überschaubaren Runden bleibt.


In anderen Fällen aber werden an diesen Runden 20, 30 oder noch mehr Leute teilnehmen. Und obwohl gerade für die Meeting-Kultur das agile KISS-Prinzip (keep it short & simple) gilt, kann die Anzahl derer, die man für eine angemessene Erkundung des aktuellen Elefanten braucht, nicht immer auf eine überschaubare Teamgröße reduziert werden. Inhaltliche Komplexität geht eben oft mit sozialer Komplexität einher.

  • Wie aber läßt sich verhindern, dass solch große Meetings der schlechten Tradition einschlägiger Elefantenrunden verfallen?

  • Dass sie träge verlaufen?

  • Oberflächlich bleiben?

  • Gar zu einer Arena des taktischen Handelns verkommen?

Vor vielen Jahren ist die professionelle Großgruppenarbeit angetreten, um darauf richtungsweisende Antworten zu geben.

In meinem nächsten Blog möchte ich dies am Beispiel eines Formats erläutern, das weithin als Herzstück des agilen Vorgehens gesehen wird: nämlich der Retrospektive. Wie können wir dieses Format gestalten, wenn daran nicht 7, sondern 70 Leute teilnehmen? Was unterscheidet die Arbeit mit kleinen und großen Gruppen? Welche Strukturelemente können wir einsetzen, um intensive Diskussionen und pointierte Vernetzung zu fördern? Und warum sind Große Retros unverzichtbar, wenn es uns um unternehmerische Agilität geht?


Stay tuned!

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