Agiles Entscheiden

In ihrem Buch Das Unerwartete managen  untersuchen Karl Weick und Kathleen Sutcliffe Organisationen, die ständig mit hohem Risiko und Unsicherheit zu tun haben – sogenannte High Reliability Organisations (HROs) wie etwa Atomkraftwerke, Notfallambulanzen oder Feuerwehren.

Aus zahlreichen Fallbeispielen destillieren sie einige handlungsleitende Prinzipien und Praktiken, die Agilität und Selbstorganisation gleichermaßen fördern. Sie zeigen, wie solche Unternehmen einerseits Entscheidungsbedarf antizipieren und andererseits sicherstellen, dass im Anlassfall möglichst flexibel entschieden werden kann. Hilfreiche Praktiken, um entscheidungskritische Punkte vorherzusehen, sind etwa:

  • eine transparente Informationspolitik zu Unregelmäßigkeiten und Fehlern,

  • die periodische Überprüfung von Erwartungen oder

  • die Delegation der Entscheidungsbefugnis in Richtung derer, die nahe am jeweiligen Problem sind und sich damit auch auskennen.

Wenn der Wald brennt, ist es nicht nur sinnfrei, sondern nachgerade lebensgefährlich auf die Entscheidung des Feuerwehrhauptmanns zu warten. Stattdessen muss jeder in der Brandbekämpfung selbst entscheiden, welche Löschmaßnahmen am geeignetsten sind. Auch dafür gibt es einige handlungsleitende Prinzipien:

  • das Problem möglichst rasch einzugrenzen, um eine flächenbrandartige Ausbreitung zu verhindern

  • kleine Verluste in Kauf zu nehmen, um größeren Folgeschäden vorzubeugen

  • kurzfristige Lösungsschritte zu setzen statt lange Pläne zu entwickeln.

Von den Extremsituationen, denen HROs immer wieder ausgesetzt sind, können wir einiges lernen:

  • Sie führen uns vor Augen, warum Entscheidungen vom Respekt für Wissen und Können getragen werden sollten.

  • Sie dokumentieren, warum Fachexpertise und Situationskenntnis in vielen Fällen wichtiger sind als Rolle oder Rang.

  • Und sie zeigen uns, warum wir die Entscheidungsautorität auf die Person verschieben sollten, die im Fall des Falles über die größte Gestaltungskompetenz verfügt.

Angesichts unserer alltäglichen Probleme überrascht es wohl niemand, dass die Zentralisierung von Entscheidungsautorität Agilität und Selbstorganisation gleichermaßen behindert. Dezentrale Entscheidungen stärken nicht nur die Einsatzbereitschaft; sie sind auch in geschäftlicher Hinsicht vorteilhaft. Zum einen erhöhen dezentrale Entscheidungen die Reaktionsgeschwindigkeit des Unternehmens: Potenziell kritische Punkte werden rascher aufgegriffen, Gefahren früher antizipiert und Maßnahmen situationsgerechter getroffen. Zum anderen werden auch viel mehr Geschäftsmöglichkeiten wahrgenommen.

Die Konzentration der Entscheidungsmacht an der Unternehmensspitze führt nämlich dazu, dass das ökonomische Potenzial kleiner Entscheidungen ungenützt bleibt. Wie Don Reinertsen überzeugend argumentiert, haben diese kleinen, kundennah getroffenen Entscheidungen jedoch enorme Auswirkungen auf die Gesamleistung des gesamten Unternehmens. In der Annahme, dass das Schicksal unserer Organisation von den großen strategischen Weichenstellungen abhängt, werden wir Opfer dessen, was Reinertsen das Pareto-Paradox nennt: Wir über-managen die 20% an großen Weichenstellungen und unter-managen die 80% an kleinen Kursänderungen, die im Sinne echter Agilität vorgenommen werden sollten.

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