Das Gespenst der Selbstorganisation

Ein Gespenst geht um in der VUKA-Welt — das Gespenst der Selbstorganisation. Unternehmen werden gemeinsam gesteuert, Managementaufgaben verteilt und Entscheidungsautoritäten dezentralisiert.

Manche sehen darin einen bösen Spuk am Werk: Sie befürchten Basisdemokratie, Anarchie, Chaos. Andere wiederum betrachten Selbstorganisation gerne als guten Geist: Man erwartet sich mehr Motivation, bessere Arbeitsergebnisse und höhere Kundenzufriedenheit. Kein übles Glücksversprechen, wie wir meinen.

Doch was ist das eigentlich, was da neuerdings in vielen Unternehmen herumspukt? Welche Geister treten in Aktion, wenn Selbstorganisation angesagt ist? Und warum braucht man sich nicht zu wundern, dass man diese Geister nicht mehr los wird?

Aufbauend auf dem sogenannten C/D/E-Modell der amerikanischen Soziologin Glenda Eoyang läßt sich erklären, wie Selbstorganisation zustande kommt. Dafür braucht es letztlich nur vier Zutaten:

1.) Eine kraftvolle Mission, die auf Kunden, Klientinnen und Stakeholder ausgerichtet und in bestimmte Ziele übersetzt wird (siehe rote bzw. rot umrandete Felder).

2.) Rahmenbedingungen, die Ihre Organisation auf Kurs halten. Es ist die Aufgabe des Managements (siehe orange umrandeter Kreis) diesen Rahmen so zu gestalten, dass die Fachexpertinnen und -experten bestmöglich arbeiten können: von klaren Entscheidungsregeln über transparente Informationsflüsse bis zu kurzen Feedbackschleifen (bei Eoyang C für containing boundary)

3.) Unterschiede hinsichtlich Wissen, Erfahrung, Ausbildung oder kulturellem Hintergrund (D für differences).

4.) Austausch innerhalb des Teams sowie mit den relevanten Umwelten des Systems, allen voran den Kunden (E für exchange).

Systemisch betrachtet findet Selbstorganisation ständig statt, sie ist gleichsam der natürliche Weg auf dem soziale Ordnung zustande kommt — die Frage ist nur, in welchem Ausmaß und mit welcher Konsequenz das passiert. In den letzten Jahren wurde der Selbststeuerung vielerorts mehr Raum gegeben, insbesondere dort, wo agile Methoden eingesetzt wurden. Leider bleiben Scrum, Kanban, Design Thinking & Co oft auf einzelne Teams und Spezialabteilungen beschränkt.

Die 40 Unternehmen, die Sigi Kaltenecker in seinem neuen Buch “Selbstorganisierte Unternehmen”erkundet, zeigen, dass es auch anders geht.

Der Traum einer ebenso reaktionsschnellen wie innovationskräftigen Gesamtorganisation ist keineswegs unerfüllbar. Die breite Palette an Praxisbeispielen reicht von Pionieren wie dem Textilhersteller Gore oder dem Maschinenbauer Semco über Trendsetter wie dem Tomatenproduzenten Morning Star oder der Musikplattform Spotify bis hin zu aufstrebenden Newcomern wie dem Telekommunikationsexperten sipgate oder den Softwaretestern von Computest.

Quer durch die unterschiedlichsten Branchen, Kontexte und Größenordnungen setzen diese Unternehmen auf ein erstaunlich ähnliches Set an Prinzipien und Praktiken: etwa die transparente Steuerung von Arbeitsabläufen, das Primat kundennaher Entscheidungen durch bewusste Delegation von Autorität, kurze Feedbackschleifen mit den Kunden und anderen Organisationseinheiten oder die bewusste Verteilung von traditionell dem Linienmanagement vorbehaltenen Aufgaben.

Summasummarum zeigen diese Unternehmen, dass Selbstorganisation keine Raketenwissenschaft ist. Kundenzufriedenheit, Mitarbeiterzufriedenheit und Profitabilität schließen einander nämlich keineswegs aus. Im Gegenteil: sie bilden die Eckpfeiler eines Kräftefelds, das von der Kundennähe ebenso lebt wie vom persönlichen Einsatz und der gemeinsamen Gestaltungsfreude.

Doch solange Experten weiter bevormundet, motivierte Leute mit bürokratischen Richtlinien gegängelt und Manager auf die Fernsteuerung von Untergebenen fokussiert werden, herrschen die bösen Organisationsgespenster vor.

Um die guten auf den Plan zu rufen, brauchen wir andere Steuerungsformen. Und dafür brauchen wir wiederum ein anderes Führungsverständnis. Doch wie erfolgt Führung im selbstorganisierten Umfeld? Was gilt es zu beachten? Und welche Prinzipien und Praktiken haben sich bewährt? Das sind einige der Fragen, die wir in unserem nächsten Blog beantworten wollen.

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