Selbstorganisation und Führung

Vom Gespenst der Selbstorganisation war in unserem ersten Blog die Rede, vom bösen Spuk traditioneller Ordnungen und von den guten Geistern der Autonomie, die immer mehr Unternehmen herbeirufen. Doch was handelt man sich mit einem solchen Ruf ein? Was bedeutet das für die Führung Ihres Unternehmens? Und warum kann es einem leicht passieren, dass man die Geister nie wieder los wird?

Im Folgenden versuchen wir, diese Fragen in Form von fünf Thesen zu beantworten.

1.) Führung ist Teamsport - schließlich ist sie zu wichtig, um sie einem Einzelnen zu überlassen. Stattdessen setzen selbstorganisierte Unternehmen auf ein breites Feld an Führungskräften, die sich netzwerkartig verbinden. In Analogie zum Fußball läßt sich im wahrsten Sinne des Wortes bei-spiel-haft verdeutlichen, dass mehr als ein Ronaldo nötig ist, um in Führung zu gehen. Es braucht unterschiedliche Rollen (Verteidiger, Mittelfeldspielerinnen, ...) mit unterschiedlichen Fähigkeiten (sprintstark, kopfballgefährlich, zweikämpferisch etc.) innerhalb unterschiedlicher Spielkonzepte (defensiv, offensiv, schnelles Umschaltspiel usw.). Gespielt wird, zumindest im Profifußball, auch nicht um des Spielens willen, sondern um zu gewinnen: das Match, die Meisterschaft, die Aufmerksamkeit der Medien, das Geld der Sponsoren, die Herzen der Fans. Ob gewonnen oder verloren wird, ergibt sich aus einem dynamischen Netz von Interaktionen: vor allem der Spieler untereinander, aber auch mit dem gegnerischen Team, mit dem eigenen Coach und natürlich mit den Fans (Stichwort: der 12. Mann).  Wer jeweils wie viel zum Spiel beiträgt, ist im übrigen relativ irrelevant. Stattdessen braucht es das Können aller, eine Portion Glück und den richtigen Riecher. Schließlich kann jede Spielerin das entscheidende Tor erzielen, sogar die Torfrau, wie die spektakulärsten Momente der Fußballgeschichte vor Augen führen.

2.) Führung ist Dienstleistung - sie dient der Sache und dem Ganzen. Wer führt, erbringt ein spezielles Service — egal ob auf dem oder abseits des Spielfelds. Service bedeutet allerdings Unterstützung und nicht Befehl. Letzteres wäre auch reichlich vermessen. Was auf dem Feld passiert, gehorcht nämlich stets seinen eigenen Gesetzen. Manche wollen trotzdem einen Spielplan erkennen, anderen sehen pure Agilität in Action. Die Dynamik des Spiels entfaltet sich jedenfalls selbstorganisiert. Darauf hat jeder einzelne Spieler bekanntlich nur einen überschaubaren Einfluss. Und was der Coach tun kann, sobald das Spiel läuft, ist wohl noch überschaubarer.
Wozu brauchen wir ihn dann?, hören wir Sie förmlich fragen. Nun, der Coach kann zwar nicht aufs Feld rennen und einfach mitspielen, wenn es nicht wie geplant läuft — das wäre pures Mikromanagement und angesichts der tatsächlichen Komplexität des Spielgeschehens maximal eine Lachnummer. Der Coach hat aber beträchtlichen Einfluss auf die Rahmenbedingungen jedes Teams: von der Spielerauswahl über das grundlegende Fitnesstraining und die Spielphilosophie bis zur speziellen Vor- und Nachbereitung jedes einzelnen Spiels. Und immerhin kann er während des Spiels auch die Taktik ändern oder einzelne Spieler auswechseln. Und dann gibt es ja noch die Pause, in der der bisherige Spielverlauf analysiert und Veränderungen für die 2. Halbzeit vorgenommen werden. All das macht den Coach zum Makromanager, dessen spezielle Dienstleistung darin besteht, seine Spieler bestmöglich zu unterstützen. Er arbeitet am System und versucht dieses kontinuierlich zu optimieren, während das Team sich auf die fachliche Arbeit im System konzentriert, um dem Kunden seine bestmögliche Leistung zu liefern.

3.) Selbstorganisation braucht Führung — sie bedeutet nicht Führungslosigkeit. Im Gegenteil: Als Teamsport oder noch besser unternehmerischer Breitensport betrachtet, bringt sie nicht weniger, sondern zu mehr Führung. Denn jeder Mitarbeiter kann mit seinem einzigartigen Können dazu beitragen, dass wegweisende Impulse gesetzt werden, jede Mitarbeiterin ihre spezielle Erfahrung einbringen und situativ Führungsverantwortung übernehmen. Selbstorganisierte Unternehmen werden von der doppelten Bereitschaft vorangetrieben, in Führung zu gehen und sich führen zu lassen. Ohne Zustimmung gibt es weder ein Vorangehen noch ein Folgen. Bereitschaft wie Zustimmung setzen indes Vertrauen voraus - und sei es im Sinne eines Vorschusses, der sich zu bewähren hat.

4.) Selbstorganisation entfaltet sich nicht von heute auf morgen —  sie folgt keiner Entweder-oder-Logik und ist auch nichts, was wir einfach ein- und ausschalten können. Sie erfordert keinen revolutionären Akt — schließlich ist Selbstorganisation immer schon da, sie ist der natürliche Weg, auf dem soziale Ordnung entsteht. Wie das Vertrauen, auf dem sie beruht und das sie verstärkt, braucht Selbstorganisation jedoch Zeit, um sich zu entfalten. Und sie braucht Pflege, damit sie wächst und gedeiht.

Die 40 Praxisbeispiele, die Sigi Kaltenecker in seinem letzten Buch “Selbstorganisierte Unternehmen” erkundet hat, geben uns viele nützliche Hinweise, wie wir das bewerkstelligen können. Alles in allem wird Selbstorganisation vor allem durch folgende Interventionen gefördert:

  • mehr Raum für individuelles wie gemeinsames Lernen, etwa durch Personal Kanban für eine bessere Selbstorganisation, regelmäßige Bilanzen über das, was gelungen und nicht gelungen ist, Pairing für fachliches Lernen, Communities of Practice oder durch externes Coaching;

  • eine bessere Moderation von Interaktionen — sei das nun über agile Meetings wie Standups und Retrospektiven, kollegiales Feedback oder die intensivere Zusammenarbeit mit Kundinnen und Kunden;

  • Rahmenbedingungen, die in sinnvollen Schritten mehr Verantwortung übertragen — von der Entscheidungsmacht über bestimmte Bereiche über die Transparenz aller betriebsrelevanten Informationsflüsse und das sukzessive Beseitigen dysfunktionaler Abhängigkeiten bis zur weitgehenden Autonomie, die nur mehr eine sehr lose Kopplung von Organisationseinheiten mit sich bringt.

5.) Selbstorganisation verändert das Management — sie macht es allerdings nicht überflüssig. Wenn sich Expertinnen selber steuern, Teams ihre eigenen Arbeitsprozesse designen und ganze Geschäftseinheiten Autonomie genießen — wozu brauchen wir dann eigentlich noch Managerinnen und Manager? Ist nicht eine zentrale Pointe der Selbstorganisation, hierarchische Verhältnisse zu überwinden? Und Abhängigkeiten konsequent zu reduzieren? Ja, zweifellos, lautet unsere Antwort. Und dennoch: Management kommt auch in selbstorganisierten Umfeldern eine wichtige Bedeutung zu. Allerdings in einer anderen Form als wir das heute kennen. Und vor allem: mit anderen Aufgaben. Erfahren Sie mehr darüber in unserem (demnächst erscheinenden) Blog zu “Selbstorganisation und Management“.

Über diese allgemeine Perspektive hinaus, sehen wir vier handfeste Motive für Selbstorganisation:

1. Kulturelle Motive

Es geht um mehr Sinn, um mehr Fairness, um demokratischere Verhältnisse und ein anderes Arbeitsklima, in dem Freude und Spass nicht nur schöne Wörter sind. Es wird auf das Wissen und Können der Leute gesetzt und echter Freiraum gewährt. Dazu werden arbeitsrelevante Informationen offen gelegt und der Bezug zum großen Ganzen hergestellt: Wofür sind wir eigentlich da? Was wollen wir? Welche Werte sind uns besonders wichtig? Das Kulturparadigma der Selbstorganisation hängt oft mit einem Generationswechsel in Familienunternehmen zusammen: junge Nachfolger wie Ricardo Semler (Semco), Klaus Hoppmann (Autowelt Hoppmann) oder Christoph Haase (Tele Haase) wollen anders führen als die Gründergeneration.

In anderen Fällen wurzelt Selbstorganisation in der persönlichen Philosophie von Pionieren wie Bill Gore (Gore Tex), Götz Werner (dm) oder Hartger Ruijs (Computest). Dann gibt es noch die Fälle, in denen krisenhafte Erfahrungen der Treiber sind — wie etwa im Falle von Bodo Janssen (Upstalsboom). Und schließlich die breite Front an Unternehmen, die MitarbeiterInnenzufriedenheit als zentralen Erfolgsfaktor sehen und konsequent in entsprechende Rahmenbedingungen investieren — wie das insbesondere in digital businesses wie sipgate, Invision, LIIP, Menlo Innovations oder Spotify der Fall ist.

2. Strategische Motive

Es geht darum, lukrative Geschäftsmöglichkeiten aber auch mögliche Marktrisiken möglichst früh wahrzunehmen. Wenn Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität die Zeichen unserer Zeit sind, brauchen Unternehmen ein Sensorium, das einer solchen Welt gewachsen ist. Seit Hal Ashby Law of Requisite Variety wissen wir, dass externe Komplexität nur mit interner Komplexität zu beantworten ist. Es geht also um schnellere, vor allem aber auch um breitere Wahrnehmung von Anforderungen. Alle Mitarbeiter sollen nunmehr gleichsam ihre Fühler ausstrecken und als Sensoren für das Umweltgeschehen wirken.

Ein breites, kundennahes Sensorium erleichtert es, notwendige Kurswechsel so früh wie möglich zu registrieren: sei es nun im Sinne neuer Kundenwünsche, wesentlicher Verbesserungsmaßnahmen oder möglicher Innovationsfelder. In selbstorganisierten Unternehmen wird jeder zu einem solchen Sensor – ähnlich wie in einem lebenden Organismus jede Zelle ihre Umwelt wahrnehmen und uns entsprechend informieren kann. Eine solche Sensibilität gibt es überall – in traditionellen Organisationen werden die dabei gesammelten Informationen allerdings oft stark gefiltert.

3. Strukturelle Motive

Es geht darum, die eigene Organisation fit für die Anforderungen der VUKA-Welt zu machen. Wie richtet sich ein Unternehmen konsequent am Markt aus? Wie sichert es möglichst kundennahe Entscheidungen ab? Und welche internen Strukturen und Prozesse braucht es dafür? Organisationsdesign lautet der Fachbegriff, der die Beantwortung dieser Fragen leitet. Dabei geht es vor allem um die Gestaltung jener systemischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer gearbeitet wird. Selbstorganisierte Unternehmen führen diesbezüglich vor allem drei Prinzipien vor Augen:

  • Die konsequente Marktorientierung. Zuerst der Kunde lautet das Prinzip: Was braucht der Kunde? Worauf legt er besonderen Wert? Was könnt noch wertvoll sein? Und wie können wir ihm das möglichst rasch und unaufwändig liefern?

  • Direkte Interaktion mit Kunden. Regelmäßige Einbindung, vertrauensvolle Kommunikation, intensives Feedback bis hin zur gemeinsamen Entwicklungsarbeit (Stichwort: Design Thinking). Dafür haben sich dezentrale Einheiten von überschaubarer Größe bewährt, die auf eine bestimmte Kundengruppe, ein Produkt oder eine Region fokussiert sind.

  • Der schlanke Aufbau. Agilität ist bekanntermaßen auch eine Sache des Gewichts. Wenn für jede Entscheidung ein ganzer Apparat von Vorgesetzten und Fachabteilungen mobilisiert werden muss, ist es gleich wieder vorbei mit der unternehmerischen Beweglichkeit, von der derzeit alle zu träumen scheinen. Das Erfolgsrezept lautet: flache Hierarchie, ein Minimum an Zentralfunktionen und Richtlinien, dafür ein Maximum von Autonomie. Transparenz verbessert die Informationsflüsse und führt nachweislich zu besseren Entscheidungen. Visuelles Arbeitsmanagement hilft, auch die komplexen Arbeitsabläufe und Abhängigkeiten transparent zu machen und erleichtert eine effektive Selbststeuerung.

4. Geschäftliche Motive

Es geht um den messbaren Erfolg. Selbstorganisation darf und soll sich rechnen. Schließlich gilt sie als Katalysator eines stabilen Engelskreises von Kundenzufriedenheit, Mitarbeiterzufriedenheit und Profitabilität. Wenn Mitarbeiter motivierter zu Werke gehen, wenn sie das, was sie gut machen, selbst managen, wenn sie sich besser miteinander und mit relevanten Stakeholdern koordinieren, wirkt sich das auch auf die Kunden aus. Und wenn sich die Kunden ihrerseits besser abgeholt fühlen, wenn sie den Eindruck haben, dass es wirklich um ihre Wünsche geht und zwischendurch auch mal die vielzitierte Extrameile gegangen wird, schlägt sich das wiederum in besserem Feedback nieder. Das wiederum erhöht die Motivation der Mitarbeitenden, da sie sehen können, welchen Sinn und Nutzen ihr Einsatz stiftet. Und so weiter und so fort.

Es versteht sich, dass die genannten Motive nur selten in Reinkultur auftreten. Viel eher treten sie in unterschiedlichen Mischformen auf. Und sie verändern sich im Zeitverlauf: was ursprünglich primär kulturell motiviert war, erweitert sich um strategische Interessen, ein verändertes Organisationsdesign bringt eine andere Kultur mit sich, das Primat der Kundenorientierung führt zu einem stärkeren Mitarbeiterfokus und Ähnliches mehr. Geschäftliche Motive gibt es immer, sie stehen jedoch nicht im Vordergrund selbstorganisierter Unternehmen. Und alle Beteiligten wissen, dass es sich bei dem genannten Engelskreis keineswegs um ein magisches Perpetuum Mobile handelt. Doch, entsprechende Achtsamkeit und Lernbereitschaft vorausgesetzt, brauchen sich selbstorganisierte Unternehmen um ihr Business wenig Sorgen zu machen.

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