Was ist agile Unternehmenskultur?

In agilen Umfeldern wird gebetsmühlenartig auf die herausragende Bedeutung der Kultur hingewiesen. Ohne eine entsprechende Unternehmenskultur, so das Credo, seien weder Reaktionsschnelligkeit noch Anpassungsfähigkeit zu haben. Diesem Credo kann ich mich grundsätzlich anschließen. Mir fällt jedoch auf, dass das vielzitierte agile Mindset vor allem die persönliche Einstellung, die Mentalität und Grundhaltung im Visier hat. Das suggeriert, dass unternehmerische Agilität im Wesentlichen eine Sache von individuellem Lernen ist – was wohl auch den massiven Einsatz von Methodenschulungen und Rollentrainings in vielen Organisationen erklärt. Um agil arbeiten zu können, braucht es schließlich gut qualifizierte ScrumMaster, Product Owner, Agiles Coaches, Kanban Experten oder Design Thinker.

Dieser Einsatz hat zweifellos seine Berechtigung. Professionelles Training und Coaching ist und bleibt wertvoll. Allerdings garantiert dessen personenzentrierte Ausrichtung keineswegs, dass das Unternehmen dadurch tatsächlich agiler wird. Im Gegenteil: solange wir primär die Rollen-, Titel- und Funktionsbausteine der Aufbauorganisation zu bewegen versuchen statt auf agile Abläufe zu fokussieren, geraten wir leicht auf den Holzweg. Dieser Weg halt uns zwar auf Trab, führt aber weder zu responsiveren Unternehmen noch zu zufriedeneren Kunden.

In diesem Sinne halte ich den individualisierten, gewissermaßen persönlich genommenen Kulturbegriff für doppelt gefährlich: zum einen trivialisiert er die Komplexität systemischer Zusammenhänge, zum anderen verführt er uns dazu, die Veränderbarkeit von Unternehmenskulturen zu überschätzen. Doch wie bekommen wir akkurat zu fassen, was sich ja gerne als sprichwörtlicher Pudding entpuppt, den wir an die Wand zu nageln versuchen? Meiner Ansicht nach hilft es schon einmal, Kultur nicht länger auf jene vermeintlich weichen Phänomene zu reduzieren, die wir dann mit Events pflegen, von Chief Cultural Officers gestalten und über Happiness Indizes monitoren können. Stattdessen sollten wir eben auch den harten Teil der Kultur ins Auge fassen.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Was ist der harte Teil eines Puddings? Um es mir nicht noch schwerer zu machen, habe ich vor einigen Jahren begonnen, Unternehmen mit Raumschiffen zu vergleichen, die sich – wie die Abbildung oben zeigt - enterprise-artig durch die unendlichen Weiten des Marktes bewegen.

Die Abbildung umreißt, was diese Bewegung ausmacht:

  • Jedes Unternehmensraumschiff wird von einer bestimmten Mission befeuert, also von dem, was seinen primären Zweck, seinen Sinn und Existenzgrund ausmacht. Agile Organisationen sollten sowohl für ihr Spezialgebiet brennen als auch für den Nutzen, den Sie damit dem Kunden stiften.

  • Das Raumschiff ist auf eine Vision ausgerichet, eine Art von Leitstern oder Sternensystem, das für ein höheres Ziel steht. Toyota setzt dafür beispielsweise seinen True North ein: Null Fehler, 100% Wertschöpfung, durchgängiger One-Piece-Flow, absolute Arbeitssicherheit und ständige Verbesserung. Es versteht sich, dass es dabei nicht um eine SMARTE Zielsetzung geht, sondern um eine allgemeine Orientierung, die dem Streben nach Perfektion seine Richtung gibt.

  • Die Strategie definiert die nächsten Etappen jeder Enterprise. Sie umfasst das aktuelle Produkt- und Serviceportfolio, die speziellen Ziele und das Vorgehen, um diese zu erreichen, die Budgetierungs- und Priorisierungssysteme und vieles mehr. Das Unternehmensschiff ist jedoch erst dann auf Erfolgskurs, wenn es gelingt, immer wieder an seine relevantesten Umwelten anzudocken: bildlich gesprochen an möglichst viele Kundenplaneten, die es nähren, indem sie Waren und Dienstleistungen gegen »Treibstoff« in Form von Geld, Anerkennung oder Weiterempfehlung tauschen.

  • Die Kontextabhängigkeit jeder Enterprise läßt sich noch mit dem Hinweis bekräftigen, dass der Weltraum nicht nur von tauschfreudigen Kunden, sondern auch von konkurrierenden Raumschiffen bevölkert wird. Ganz zu schweigen von den gesetzlichen Regularien oder politischen Einflussgrößen, die darauf einwirken.

  • Innerhalb dieser Kontexte bildet jedes Unternehmen bestimmte Strukturen und Prozesse heraus. Sie beantworten die Frage nach dem Wie der Organisation und bestimmen in hohem Maße, was wir tagtäglich erleben. Von der Infrastruktur über die verschiedenen Verfahren und Qualitätsstandards bis hin zu den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, die das tägliche Tun bestimmen.

  • »So arbeiten wir hier!«, könnte die Überschrift für jene selbstverständlichen Verhaltensnormen lauten, die jede Organisation im Laufe der Zeit herausbildet: von der Art, sich zu kleiden über alle Facetten der verbalen wie nonverbalen Kommunikation bis hin zur Grundhaltung gegenüber Kolleginnen wie Vorgesetzten, die sich im übrigen - apropos Respekt, Wertschätzung, Empathie - oft kongenial in der Haltung gegenüber den Kundinnen und Kunden widerspiegelt. Diese Normen sind in hohem Maße handlungsleitend, da sie sich ganz normal anfühlen, eben als natürliche Form des Arbeitens. Dementsprechend schwer fällt es, diese Normen akkurat zu erfassen – ein wenig wie der Fisch, der, selbst wenn er denn reden könnte, das Wasser nicht beschreiben könnte, indem er sich ganz selbstverständich bewegt.

Es sollte mittlerweile klar geworden sein, dass die Unternehmenskultur eben keinen singulären Faktor darstellt, den wir isoliert betrachten oder gar verändern können. Die Kultur ergibt sich vielmehr aus dem einzigartigen Zusammenwirken der Strategien, Strukturen, Prozesse und Verhaltensstandards, die jedes Raumschiff in der Auseinandersetzung mit den unendlichen Weiten des Weltalls herausbildet. Kultur läßt sich daher weder auf einen Bereich reduzieren noch ahistorisch einfrieren. Vielmehr ist sie selbst beständig in Bewegung.  

Alles in allem will meine Raumschiffmetapher die komplexe Natur jeder Unternehmenskultur vor Augen führen. Sie wird eben von vielen Einflussgrößen beeinflusst, die zwar volatil, aber keineswegs weich sind. Der sich daraus ergebenden Komplexität kann sich keine ernsthafte Veränderung in Richtung mehr Business Agility entziehen. Nur auf das Mindset zu fokussieren, reicht bei weitem nicht aus. Aber auch ein rein struktur- und prozessorientierter Ansatz à la möglichst viele agile Teams greift zu kurz.

Wie jede Metapher neigt natürlich auch meine kleine Enterprise-Reminiszenz zur Übersimplifizierung: weder agieren größere Unternehmen als ein Raumschiff noch ist Kultur ein einheitliches Phänomen. Stattdessen gibt es kleinere und größere Enterprises, langsame und schnellere Schiffe, wichtige und weniger wichtige Missionen usw. Dennoch hoffe ich, damit ein wenig zur einer Klärung einiger Mythen und Missverständnisse beigetragen zu haben, für die einmal mehr gilt, was ich in einem anderen Blogbeitrag das Falschgeld-Prinzip genannt habe. Denn nicht die populären Irrtümer zu Kultur, Agilität und Selbstorganisation erstaunen, sondern dass sie so erstaunlich lange in Umlauf bleiben.

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